Bergottes Tod trat am Tage nach jenem ein, an dem er sich einem dieser allzumächtigen Freunde (Freunde? Feinde? ) anvertraut hatte. Er starb unter den folgenden Umständen: Ein verhätlnismäßig leichter Anfall von Urämie war die Ursache, daß ihm Ruhe verordnet worden war. Aber ein Kritiker hatte geschrieben, daß Vermeers "Ansicht von Delft" (die das Museum im Haag für eine Ausstellung holländischer Kunst leihweise zur Verfügung gestellt hatte), ein Bild, das er liebte und sehr gut zu kennen meinte, eine kleine gelbe Mauerecke ( an die er sich nicht erinnerte) enthalte, die so gut gemalt sei, daß sie allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge; Bergotte aß daraufhin nur ein paar Kartoffeln, verließ das Haus und trat in den Ausstellungssaal. Schon auf den ersten Stufen, die er zu ersteigen hatte, wurde er von Schwindel erfaßt. Erging an mehreren Bildern vorbei und hatte einen Eindruck von Kälte und Zwecklosigkeit angesichts einer Kunst, die nur kkünstlich war und nicht gegen das Fluten von Luft und Sonne in einem venezianischen Palast oder einem einfachen Haus am Meersufer auf kommen konnte. Endlich stand er vor dem Vermeer, den er strahlender in Erinnerung hatte, noch verschiedener von allem, was er sonst kannte, auf dem er aber dank dem Artikel des Kritikers zum ersten Mal kleine blaugekleidete Figürchen erkannte, ferner feststellte, daß der Sand rosig gefärbt war, und endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerstücks entdeckte. Das Schweindelgefühl nahm zu; er heftete seine Blicke - wie ein Kind auf einen gelben Schmetterling, den es gern festhalten möchte - auf die kostbare kleine Mauerecke. "So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu trocken, ich hätte mher Farbe daran wenden, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen, wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist." Indessen entging ihm die Schwere seiner Benommenheit nicht. In einer himmlischen Waage sah er auf der einen Seite sein eigenes Leben, während die andere Schale die kleine so trefflich gemalte Mauerecke enthielt. Er spürte, daß er unvorsichtigerweise das erste für die zweite hingegeben hatte. "Ich möchte dabei doch nicht, dsagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein."
Er sprach mehrmals vor sich hin: "Kleine gelbe Mauerecke unter einem Dachvorsprung, kleine gelbe Mauerecke." Im gleichen Augenblick sank er auf ein Rundsofa nieder; ebenso rasch dachte er schon nicht mehr, daß sein Leben auf dem Spiel stehe, sondern in wiederkehrenden Optimismus beruhigte er sich: "Es ist eine einfache kleine Verdauungsstörung, die Kartoffeln waren nicht ganz gar, es ist weiter nichts." Ein neuer Schlag streckte ihn hin, er rollte vom Sofa auf den Boden, wo die hinzueilenden Besucher und Aufseher ihn umstanden. Er war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen. Gewiß erbringen spiritistische Experimente nicht deutlicher als religiöse Dogmen den Beweis für das Fortleben der Seele. Man kann nur sagen, daß alles in unserem Leben sich so vollzieht, als träten wier bereits mit der Last in einem früheren Dasein übernommener Verpflichtungen in das derzeitige ein; es besteht kein Grund in den Bedingungen unseres Erden-Gute zu tun, zartfühlende, ja, auch nur häflich zu sein; auch sich gedrungen fühlen soll, zwanzigmal ein Werk von neuem zu beginnen, dessen Bewunderung seinem von Würmern zerfressenen Leib wenig ausmachen wird, ein Werk wie die gelbe Mauerecke, welche mit so viel Können und letzter Verfeinerunge ein auf alle Zeiten unbekannnter und nur notdürftigg unter dem Namen Vermeer identifizierter Maler einmal geschaffen hat. Alle diese Verpflichtunge, die im gegewärtigen Dasein nicht hinlänglich begründet sind, scheinen einer anderen, auf Güte, auf Gewissenhaftigkeit, auf Opferbereiteschaft basierenden Welt anzugehören, einer Welt, die vollkomen anders als unsere hiesige ist, aus der wir aber gekommen sind, um auf dieser Erde geboren zu werden, bevor wir vielleicht in jene zurückkehren, um wieder unter der Herrschaft jener unbekannten Gesetze weiterzuleben, denen wir gehorchen, eingeschrieben hat - Gesetze, denen alle vertiefte Arbeit des Geisetes uns näherbringt und die unsichtabar - vieleicht sogar noch weniger erkennbar als das Unsichtbare - einzig den Narren bleiben. Der Gedanke, Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig unglaubhaft.
Er wurde begraben, aber während der ganzen Trauernacht wahcten in den beleuchteten Schafenstern seine jeweils zu dreien angerdneten Bücher wie engel mit entfalteten Flügeln und schienen ein Symbol der Auferstehung dessen, der nicht mehr war.
(S. 246-248)
F3.68.4703
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